Richard Gerstl
Richard Gerstl: Selbstbildnis, 1907
© Wien Museum
Der frühzeitig aus dem Leben geschiedene Maler Richard Gerstl zählte zu den Pionieren des Expressionismus. Neben Vincent van Gogh und Edvard Munch war vor allem der musikalische Kreis um Arnold Schönberg prägend für seine Entwicklung, wohingegen er sich von der Kunst und Ästhetik Klimts bewusst distanzierte.
Gerstls künstlerische Entfaltung
Richard Gerstl, der am 14. September 1883 geboren worden war, entstammte einer vermögenden, jüdischen Wiener Familie, die später zum Christentum konvertierte. Zeitlebens war ihm finanzielle Unterstützung gewiss.
Nach dem Besuch von privaten Malschulen, begann Gerstl im Jahr 1898 ein Studium an der Akademie der bildenden Künste Wien bei Christian Griepenkerl, einem der führenden Maler der Ringstraßenzeit. Der Konservatismus der Wiener Akademie widersagte ihm bald. Auf der Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen nahm Gerstl in den Sommermonaten 1900 und 1901 schließlich in der Malschule von Simon Hollósy in Siebenbürgen Unterricht und legte seine Ausbildung an der Wiener Akademie ruhend. Zwischen 1902 und 1904 setzte sich Gerstl intensiv mit zeitgenössischer Literatur, Philosophie, Psychologie und Musik auseinander. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse beeinflussten maßgeblich sein Werk. 1906 nahm er sein Studium in einer Spezialklasse von Heinrich Lefler, einem Gründungsmitglied des Hagenbundes, wieder auf.
Die Verweigerung des Jugendstils
Gerstl fand vor allem im Œuvre von Vincent van Gogh und Edvard Munch, die er in Ausstellungen der Wiener Secession sah, Vorbilder. Darüber hinaus veranstaltete die Galerie Miethke 1906 eine umfangreiche van Gogh Personale mit 45 Werken, die, neben Gerstl, auch für Klimt impulsgebend war. Von den Errungenschaften und Ausdrucksformen seiner österreichischen Künstlerkollegen versuchte Gerstl sich zu distanzieren. Dies führte so weit, dass Gerstl 1907 eine Einladung der Galerie Miethke zu einer Schau ablehnte, in der Klimt ebenfalls vertreten war. Der junge Maler nahm damit im Vergleich zu den der Expression zugewandten Künstlern Schiele und Kokoschka, die sich mit Klimt und den Kunstformen der Wiener Moderne bewusst auseinandersetzten, von Anbeginn eine diametrale, ablehnende Haltung ein.
Im selben Jahr beteiligte sich Gerstl an der Ausstellung von Schülerarbeiten der Akademie. Die Wiener Zeitung lobte ihn in ihrer Rezension als »ein vielversprechendes Talent«. Es sollte bei dieser einmaligen, öffentlichen Anerkennung zu seinen Lebzeiten bleiben. Im Folgejahr war er zudem nicht mehr an der Schau der Akademie vertreten. Unüberwindbare Diskrepanzen und ein Beschwerdebrief Gerstls an das Ministerium für Cultus und Unterricht gipfelten im endgültigen Ausschluss.
Richard Gerstl und der Schönberg Kreis
Bereits 1906 schloss sich Gerstl dem Kreis um Arnold Schönberg mit u.a. Alexander Zemlinsky, David Josef Bach und Alban Berg an. Er unterrichtete Schönberg als Maler, während er dessen Weg als Musiker an der Schwelle zur Atonalität bewunderte. Beide waren in ihren Positionen als Erneuerer in Wien vergleichsweise isoliert. Gerstl porträtierte die befreundeten Künstler und verbrachte die Sommermonate 1907/08 mit Familie Schönberg in Gmunden am Traunsee. Dort begann er eine Affäre mit Schönbergs Gattin, Mathilde, die der Komponist aufdeckte. Der daraus resultierende Bruch mit Schönberg verstärkte Gerstls Isolation und begründete die Identitätskrise, wobei aus dieser Zeit eindringliche expressionistische Selbstporträts, wie Selbstbildnis, lachend (1908, Belvedere, Wien) stammen. Im November des gleichen Jahres als die Kunst der Wiener Moderne um Klimt in der »Kunstschau Wien« einen Höhepunkt erreichte, schied Gerstl auf tragische Weise aus dem Leben. Zuvor vernichtete er etliche seiner Werke und Schriftstücke. Gerstl fand seine letzte Ruhe in einem Ehrengrab am Sieveringer Friedhof.
Gerstl etablierte sich, durch die bewusste Verweigerung und Negierung der gängigen künstlerischen Ausformulierungen seiner Zeit, die Bevorzugung eines gestischen, wilden Pinselstriches und den Mut zur Verzerrung, vor allem in seinen Porträts, zu einem der ersten Expressionisten Österreichs, noch vor Schiele und Kokoschka. Dies brachte ihm posthum den direkten Vergleich mit Vincent van Gogh ein. Wertschätzung und Anerkennung für sein Werk sollten Gerstl erst Jahrzehnte nach seinem Ableben zuteilwerden, vor allem durch die Aufarbeitungen von Otto Kallir-Nirenstein und Rudolf Leopold.
Literatur und Quellen
- Alexandra Matzner: Richard Gerstl, in: Meisterwerke Leopold Museum, Wien 2018, S. 170-183.
- Klaus Albrecht Schröder: Richard Gerstl. 1883 – 1908. Dissertation, Wien 1993.
- Raymond Coffer, Jill Lloyd, Ingrid Pfeiffer (Hg.): Richard Gerstl. Retrospektive, München 2017.
- Ekkehard Tanner: Schirn Magazin. Richard Gerstl gegen die Akademie. www.schirn.de/magazin/kontext/richard_gerstl/richard_gerstl_akademie_bildende_kuenste_wien/ (19.07.2022).
- Wiener Abendpost. Beilage zur Wiener Zeitung, 09.07.1907, S. 5.
- Werner Hofmann (Hg.): Experiment Weltuntergang – Wien um 1900, Ausst.-Kat., Hamburger Kunsthalle (Hamburg), 10.04.1981–31.05.1981, München 1981, S. 211-213.
- Matthias Haldemann, Hans-Peter Wipplinger (Hg.): Richard Gerstl. Inspiration – Vermächtnis, Ausst.-Kat., Leopold Museum (Museums Quartier, Wien), 27.09.2019–20.01.2020, Köln 2019.